Was man in der Landschaft alles lesen kann!

Vor Ort in den Blunkerbach-Niederungen mit dem Agraringenieur Detlev Finke von der Artenagentur Schleswig-Holstein und  dem Gallowayzüchter Lars Lorenzen

Zunächst wirkt es lustig. Erwachsene Menschen rascheln mit Feldstechern durchs hohe Gras, sie spähen kleine Vögel am Horizont aus. Jedes Braunkehlchen wird mit Freudenrufen begrüßt. Nach zwei Stunden sind es mindestens drei Paare. Damit das Braunkehlchen der Welt erhalten bleibt, werden die drei Hektar Wiese auf der einen Seite des Blunkerbach in der Blunkerbach-Niederung bei Daldorf, die ich heute  besuche, erstmal nicht gemäht. Warum? Braunkehlchen pflegen im Gras zu nisten. Eine Mähmaschine wäre für sie der Tod. Sie stehen auf der Liste der bedrohten Vogelarten ganz oben.

Einer der Männer mit Feldstecher ist Lars Lorenzen. Er arbeitet als Feuerwehrmann in Hamburg, lebt aber in Daldorf und züchtet dort nach Feierabend Galloway-Rinder. Die brauchen Gras. Nachdem er einige der Flächen am Blunkerbach gepachtet hatte, um dort zu mähen, gründete er eigens die Naturschutzgemeinschaft Blunkerbach e.V. Er ist begeistert vom Gedanken, eine alte Kulturlandschaft zu erhalten, deren Wege seit Jahrhunderten Melkerweg, Viehbergweg oder Viehmoor heißen. Das Land dort liegt in einer eiszeitlichen Niederung und ist oft auch im Sommer noch nass. Es ist anmoorig, speichert große Mengen an CO2 und ist daher bedeutend für den Klimaschutz. Anders als die Flächen jenseits des Blunkerbach, die auf sandigen Geestrücken liegen, sind die diesseitigen Flächen für Ackerbau ungeeignet. Hier finden sich noch über 700 ha zusammenhängendes Dauergrünland. So etwas hat Seltenheitswert in Schleswig-Holstein.

Wie leider so oft, beginnt der Landschaftsschutz auch im Fall der Blunkerbach-Niederung mit dem Autobahnbau. Wenn, wie bei der geplanten Verlängerung der A20 bei Segeberg, Flächen aus Sicht des Naturschutzes in Mitleidenschaft gezogen werden, ist der Staat verpflichtet, Ausweichflächen aufzukaufen, die den vernichteten Flächen in ihrer Natur ähneln. Er gliedert solche Flächen eigentumsrechtlich vielfach in die Stiftung Naturschutz ein. Unter Auflagen einer naturgemäßen Bewirtschaftung werden sie jahresweise an Landwirte verpachtet.

Aber nicht nur die Naturschützer haben ein Auge auf die Niederung. Auch ein Investor für Windkraftanlagen möchte dort einen Windpark mit bis zu 190 m hohen Anlagen errichten. Man könnte dem Argument, Windräder vernichteten Vögel, entgegenhalten, der Autoverkehr habe, ohne dass jemand das an die große Glocke hängt, ganz sicher mehr Vögel auf dem Gewissen als alle Windräder zusammen. Aber das Problem ist komplizierter. Es geht um mehr als um tote Vögel. Es geht um den Erhalt von Ökosystemen, um das Weiterbestehen und die Renaturierung herrlicher Kulturlandschaften. In ihnen auch über hundert unterschiedliche Vogelarten, die hier im Wechsel der Jahreszeiten gastieren.

Die Niederung liegt in der Mitte unterschiedlicher Gebiete, die bei Realisierung der Pläne der Blunkerbach-Initiative miteinander verbunden würden. Die Windkraft, sie ist noch nicht vom Tisch, würde das verhindern. Lars Lorenzen versucht gleichwohl schon mal, eine artenreiche Wiese wiederherzustellen. Als ich ihn auf der Weide treffe, ist mit dem Agraringenieur Detlev Finke von der Artenagentur Schleswig-Holstein ein Fachmann vor Ort. Die beiden beratschlagen den geeigneten Mähzeitpunkt, und Lorenzen unterrichtet sich ausgiebig übers Ökosystem Weide.

HERR FINKE, DIE ANDEREN WIESEN UM UNS HERUM WERDEN SCHON DAS ZWEITE MAL IN DIESEM JAHR GEMÄHT. SIE ABER ZÖGERN.

 

Detlev Finke: In der konventionellen Landwirtschaft werden ein oder zwei Sorten Gras gesät, die so wüchsig sind, dass man sie Mitte Mai schon ernten kann. Aber man muss dann nachsäen, denn die Gräser haben zu diesem Mähzeitpunkt noch keine Samen gebildet. So bekommt ein Bauer mastiges, das heißt, gehaltvolles, fettes Gras für die Tierfütterung. Bis auf den Weißklee kommen aber Kräuter in derartigen Beständen nur selten vor. Aber gerade Kräuter enthalten die für Tiere wichtigen Mineralstoffe. Und eben: Brütende Vögel haben auf solch intensiv genutzten Wiesen keine Chance.

 

 

WAS MACHEN SIE ANDERS?

 

Detlev Finke: Fachgerecht bewirtschaftete Grünlandflächen für Wiesenvögel wie das Braunkehlchen werden erst spät gemäht. Das Futter wird damit rohfaserreich, es enthält weniger Eiweiß. Solche Wiesen erkennt man im Hochsommer an der braunen Färbung. Rohfaserreiches Futter kann aber sinnvoll nur durch Extensivrinder oder Pferde verwertet werden. Darum Lars Lorenzens Galloways. Um trotz geringerer Futtererträge und vergleichsweise kleinen Rindern ein gutes Einkommen zu erwirtschaften, setzen wir auf Direktvermarktung – Klasse statt Masse.

 

 

ABER WARUM GEHT ES IHNEN DABEI IMMER WIEDER UM DAS BRAUNKEHLCHEN?

 

Detlev Finke: Es geht ja nicht nur ums Braunkehlchen. Dieser Vogel ist ein Indikator für uns. Er fühlt sich nur auf weiten übersichtlichen und strukturreichen Grasflächen mit vielen verschiedenen Kräutern wohl und braucht Zaunpfähle oder einzelne kräftige Pflanzen als Sitzwarte. Von da aus hält er Ausschau nach seiner Insektennahrung. Insekten lieben eine Vielfalt an Kräutern, sie bestäuben die Blüten und sichern den Braunkehlchen damit ein reichhaltiges Nahrungsangebot. Weil es solche Landschaften aber immer weniger gibt, ist das Braunkehlchen besonders bedroht. Hier nistet es noch, also haben wir schon mal nicht alles falsch gemacht.

 

 

WIRD DIESE WIESE NICHT NACHGESÄT?

 

Detlev Finke: Die Gräser und Kräuter stehen bis in den Sommer hinein, sie bilden Samen, die sich von selbst aussäen und für die Artenvielfalt sorgen, die sich inzwischen bei Gräsern, Kräutern und Insekten im Gras gebildet hat. Wiesen und Weiden regenerieren sich so immer wieder neu. Darum sollte naturschutzfachlich hochwertiges Grünland vor Mitte Juni nicht gemäht werden. Aber dann wird es auch Zeit! Denn die Landschaft regeneriert sich zwar selbst, aber nicht von allein. Sie ist seit jeher unter landwirtschaftlicher Kultur des Menschen entstanden. Ohne Mahd würden sich hochwüchsige Pflanzen durchsetzen, allen voran bestimmte Gräser, die Wiesen würden verbrachen und an Arten verarmen, auch das Braunkehlchen würde verschwinden. Wiesenbau oder Grünlandwirtschaft, das ist Jahrhunderte alte Kulturtechnik.

 

 

BEIM MÄHEN LASSEN SIE EINEN SCHUTZSTREIFEN STEHEN. WAS SCHÜTZT ER?

 

Detlev Finke: Die Nester der Braunkehlchen. Weil die eben gern auf Zaunpfählen sitzen, um Insekten zu suchen, bauen sie ihre Nester in deren Nähe und wir lassen vor den Zaunpfählen einen Schutzstreifen von sieben Metern stehen, den wir erst bei der zweiten Mahd im September mähen, wenn die Jungvögel flügge sind.

 

 

WARUM FÄHRT LORENZEN DAS GEMÄHTE GRAS ZU DEN KÜHEN ANSTATT DIE KÜHE DAS GANZE JAHR AUF DIE WEIDE ZU LASSEN?

 

Detlev Finke: Weil Kühe viele Pflanzen in frischem Zustand nicht fressen, würden sich Disteln und Brennnesseln auf der Weide breitmachen. Getrocknet sind sie für Kühe akzeptabel und sogar gesund. Weiden, zumal Ganzjahresweiden, sind häufig artenärmer, gerade an Krautarten. Viele tritt- und verbissempfindliche Pflanzen fallen durch Beweidung aus. Dadurch nehmen auch die Insekten ab, die das Braunkehlchen für die Jungenaufzucht benötigt. Man kann die Kühe aber gut nach der ersten Mahd auf die Weide lassen. Die zweite Mahd kriegt man in diesen Niederungen sowieso oft nicht mehr getrocknet.

 

 

UND MAN HAT DÜNGER FÜR DIE WIESE…

 

Detlev Finke: Das mit dem Dünger ist ein Problem. Durch die Beweidung werden den Flächen mehr Nährstoffe entzogen, als durch den Kuhdung wieder eingebracht werden. Allerdings ist bei vielen moorigen Böden inzwischen der Grundwasserspiegel abgesenkt. Durch den Klimawandel werden die Böden zunehmend trockener. Durch die eindringende Luft wird der Torf mineralisiert, es werden Nährstoffe freigesetzt. Ein paar Kuhfladen hält die Wiese zwar gut aus. Aber wir müssen aufpassen. Denn auf den höher liegenden, trockenen Gebieten ist der Boden inzwischen im Sommer tendenziell eher überdüngt. Die Grasproduktivität wächst durchs Düngen. Das gibt mehr Heuertrag. Für uns dagegen spielen hohe Erträge nicht die große Rolle. Wichtig ist die Wirkung aufs gesamte Ökosystemen.

 

Lars Lorenzen: Es gab im Blunkerbach früher vier Staustufen mit Wehren. Im Frühjahr wurde Wasser tagelang auf die Wiesen geflutet.

 

Detlev Finke: Man nennt das “Rieselwirtschaft”. Mit ihr wurden die Wiesen mit den im Wasser enthaltenen Sedimenten gedüngt und gleichzeitig feucht gehalten. Über Entwässerungsgräben in der Wiese lief das Wasser wieder ab. Die Menschen hatten früher eine andere Auffassung von Grünlandwirtschaft. Die waren auch nicht dumm. Sie haben die Natur für sich arbeiten lassen. Diese Zeiten sind aber lange vorbei. Nach dem 2. Weltkrieg ging es voll los mit Grünlandintensivierung und Güllewirtschaft.

 

Lars Lorenzen: Es gibt unten in der feuchten Zone ein Gebiet, das federt beim Gehen hoch und runter. Mit dem Trecker darf ich nicht darauf geraten, ich würde einsinken.

 

Detlev Finke: Das liegt daran, dass an solchen Stellen früher abgetorft wurde. Die Torfstiche waren oft mehr als einen Meter tief. Sie liefen voll Wasser. Oben drüber wachsen Torfmoose, die immer dicker werden. Es bildet sich etwas, das wir “Schwingrasen” nennen. Man kann ihn vorsichtig betreten. Ist aber nicht ganz ungefährlich.

Er greift ins Gras und holt etwas heraus.

Guckt mal – Wasserpfeffer, wollt ihr mal probieren?

Wir zupfen ein paar Blättchen des unscheinbaren Krauts ab und schieben sie in den Mund.

 

Lars Lorenzen: Schmeckt bestimmt gut im Salat…. Oha, jetzt kommt’s aber….es wird scharf….holla….der Wahnsinn!

 

Wir entdecken Wildes Leinkraut, Vogelwicke, Johanniskraut, Sauerampfer, Schafgarbe, Grassternmiere. Feldlerchen schrauben sich in die Höhe und tirilieren ihr Lied. Sogar eine Seeadlerfeder weht durchs Gras. Ein hochgefährdetes Idyll. Denn würde die Blunkerbach-Niederung weiter intensiv bewirtschaftet, würde das alles verschwinden. Auch das Braunkehlchen. Es würde ein Halbjahrhundert dauern, bis es wiederkommt. Falls es überhaupt wiederkommt. Noch ist vieles offen. Lars Lorenzen macht weiter. Er übernimmt eine Verantwortung, die eigentlich, will sie weiter in einer lebendigen Natur leben, die ganze Gesellschaft hat.