Heimat
Kaum ein Wort im Deutschen ist so überladen wie Heimat. Kaum eines löst in den Menschen so angenehme Gefühle aus. Aber was ist Heimat?
Etwas sehr Schönes offenbar. Kein Mensch sehnt sich nicht danach. „Mit seinen Eichen, seinen Linden“, schrieb Heinrich Heine in den berühmten Nachtgedanken , „werd‘ ich es ewig wiederfinden“. Er meinte Deutschland, ein Gebilde, das es zu Heines Lebzeiten als Staat oder Nation noch gar nicht gab. Für ihn war „Deutschland“, war die Heimat, seine alte Mutter in Hamburg, er hatte sie zwölf lange Jahre nicht gesehen. Heimat, sagt uns Heine dichtend, muss etwas mit Vertrautheit und Nähe zu tun haben, mit Kindheit und Liebe.
Auch Eichen und Linden gehören dazu. Auf unseren Spaziergängen durch die Holsteinische Seenlandschaft führt uns der Weg zwischen Wassern hindurch hinauf in einen Buchenwald. Auch die Buche, zumindest die Art, die bei uns, im Wald besonders gerade, schlank und hoch wächst, gehört zu den heimatlichen Bäumen. Der heimatlichste wohl die Linde. Ihr begegnen wir, der Buchenwald weit hinter uns, in Form einer Art länglicher Kathedrale in einer Allee flaschengrünschattiger Linden, die sich bis hin zur Autostraße durch weite Felder zieht.
Auf dem sandigen Rückweg die tausendjährige Eiche. Fast nur noch zerfurchte Rinde. Ausgehöhlt durch Jahrhunderte von Stürmen, Regen, Gewitterblitzen, der dicke alte Stamm. Wie Armstümpfe ragen abgebrochen, umgeben von immer wieder frischem Eichengrün, tote Äste in die Luft über den Feldern. Ein Denkmal. Mit Eichen im Sinn dachte Heine an seine deutsche Heimat.
Eichen, Linden, Buchen aber gibt es nicht nur in Deutschland. „Unsere“ Eiche, eine Urahnin der schleswig-holsteinischen Art, gibt es so noch nicht einmal in Bayern oder Sachsen. Mit den Eicheln der spanischen Eiche, den Bellota, füttern die Bauern das iberische Schwein. Im Jamon iberico lassen sich die Spanier auf der Zunge zergehen, was für sie Heimat ist. Heimat, sollte sie ein Ort sein, entsteht mit der Zeit in jedem Menschen dort, wo frau oder man lebt und arbeitet. Der Schinken vom schleswig-holsteinischen Schwein ist vielleicht eine Spur weniger ausdrucksvoll als der wunderbare Pata Negra. Er hat für uns allerdings den unersetzlichen Vorzug: wir schmecken in seinem rötlichen, von feinem Fettgewebe durchäderten Fleisch mit dem weißfeisten Speckrand und seinem rauchverzaubert milden Salzaroma unsere Heimat.
In der schrumpelig gebratenen, meerbodenbraunen Scholle vor uns auf dem Teller, in ihrem mürb fein festen Weißfleisch, der intensiven Zartheit ihres Meergeschmacks (ein Verbrechen, die Haut zu verschmähen), begegnen wir tief innen dem Leben in der Landschaft, in der wir wurden, was wir sind.
Wir schmecken in der Scholle, der Makrele, in Steinbutt, Kabeljau oder Rotbarsch die See da draußen, wo wir vielleicht nur selten waren, wenn der Sturm heulte, die Wellen turmhoch, Möven in der Luft überm Kutter. Wir ahnen, wenn wir geräucherten Aal verzehren oder einen frischen Saibling, eine Forelle oder Maräne etwas von der Arbeit der Fischer in ihren leise tuckernden Booten auf schilfbegrenzten Binnenseen. Die heiße gelbe Kartoffel nach dem Schälen mit der Gabel zerbrechend, kalte Butter in Stücken darüber, etwas gekörntes Salz, Kerbel, Rauke oder was sonst das Hochbeet hergibt, schmecken wir durchs salzbuttrig Geschmolzene hindurch den Duft der Knolle in frisch umbrochener Erde und ahnen vielleicht sogar etwas von der Armut der Vielen in gar nicht so fernen Zeiten, die allein mit Kartoffeln dem Hungertod entrannen. Die Heimat, als Alleinstellungsmerkmal und zur Begründung tausender Kriege missbraucht, ist in Wahrheit etwas, das verbindet. In der Heimat finden sich Menschen.
Die Erhabenheit eines Sonnenaufgangs überm Meer vom Strand aus empfindet nur, wer Erhabenheit in sich hat. In den See- und Binnenfischen, den Rindern, Schweinen, Schafen und Hühnern, in den Gänsen, dem Getreide, den Kartoffel, Gemüsen und Salaten Schleswig-Holsteins begegnen wir immer so viel Heimat, wie in uns ist an zwischen den Küsten verbrachtem Leben. Wenn es uns, weil wir wirklich hin schmecken, wirklich schmeckt, schmecken wir in den Erzeugnissen der Heimat etwas von uns selbst, von unserem Dasein und der Arbeit all der anderen, ohne die es keine dieser Herrlichkeiten gäbe. In diesem Sinn: Viva die Heimat und bon Appetit an alle!